Dr. phil. Christoph J. Schmidt-Lellek
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Charisma, Macht und Narzissmus
Zur Diagnostik einer ambivalenten Führungseigenschaft

(Erschienen in: OSC 11 (1), 2004, S. 27-40; hier überarbeitet.)



Im Coaching von Führungskräften stellt sich häufig die Frage nach den Eigenschaften oder Fähigkeiten, die sie für ihre Führungsaufgaben qualifizieren. Dabei begegnen einem Coach vielleicht besondere Begabungen, die unter dem Begriff "Charisma" diskutiert werden. Gemeint ist damit die Fähigkeit, innovative Ideen zu entwickeln und in die Tat umzusetzen, andere zu begeistern und sie dafür zu motivieren, dass sie sich mit solchen Ideen bzw. mit den Zielen einer Firma oder einer Organisation identifizieren; aber auch die Fähigkeit, andere Menschen an sich zu binden und sie auf diese Weise für die Durchsetzung des eigenen Willens eher empfänglich zu machen.

In diesem Beitrag untersuche ich mögliche Hintergründe dieser charismatischen Begabungen und ihre Ambivalenz, denn hinter dem Glanz einer erfolgreichen Führungspersönlichkeit verbirgt sich möglicherweise eine tief greifende narzisstische Problematik als eigentliche Antriebskraft für besondere Leistungen. Zwar gelangt man wohl ohne ein gewisses Maß an Narzissmus als Voraussetzung für Dominanz, Selbstvertrauen und Kreativität überhaupt nicht in Führungspositionen, aber "ein beachtlicher Prozentsatz der Unternehmensführer wird von reaktivem Narzissmus angetrieben", d. h. von einem unstillbaren Verlangen, frühkindliche Kränkungen durch grandiose Leistungen auszugleichen, mit der Gefahr, dass dieses Verlangen "in Neid, Hass und Rachsucht umschlägt" (Kets de Vries 2002, S. 94). Für den Coach ist es wichtig, solche verborgenen Dynamiken gerade bei erfolgreichen, charismatisch begabten Führungskräften wahrnehmen und konstruktive von destruktiven Formen des Narzissmus unterscheiden zu können - aber auch sich schützen zu können, damit er sich nicht selbst in "narzisstische Verstrickungen" hineinziehen lässt. Nach einigen Hinweisen zum Verständnis von Charisma beschreibe ich in diesem Beitrag narzisstische Beziehungsdynamiken aber nicht nur als individuelle Problematik von Führungskräften, sondern auch als interaktives Phänomen, an dem also mehrere Seiten beteiligt sind.

1. Der Begriff Charisma

Der heutige Begriff des Charisma ist wesentlich von Max Weber geprägt worden. Weber (1922) beschreibt eine Polarität zwischen bürokratischer und charismatischer Herrschaft. Der "technisch reinste Typus" der legalen Herrschaft ist die Bürokratie. Sie basiert auf Recht und gesetzten Regeln, der Typus des Herrschenden ist der "Vorgesetzte", der "geschulte Beamte", der auf Grund seiner sachlichen Kompetenz im Idealfall "ohne allen Einfluss persönlicher Motive oder gefühlsmäßiger Einflüsse, frei von Willkür und Unberechenbarkeiten, insbesondere ‚ohne Ansehen der Person streng formalistisch nach rationalen Regeln und - wo diese versagen - nach ‚sachlichen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu verfügen" hat (Weber 1922, S. 718). Grundlage des Funktionierens ist auf der Seite der zum Gehorsam verpflichteten Untergebenen die ebenso emotionslose "Betriebsdisziplin" (ebd.). Als polaren Gegentypus zur bürokratischen Herrschaft beschreibt Weber die "charismatische Herrschaft". Sie basiert auf "affektueller Hingabe an die Person des Herrn und ihre Gnadengaben (Charisma). (...) Das ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene und die emotionale Hingenommenheit dadurch sind hier Quellen persönlicher Hingebung" (S. 725). Der Typus des Befehlenden ist hier der "Führer" und der des Gehorchenden der "Jünger" oder "Gefolgsmann", und Entscheidungen werden hier nicht rational nach gesetzten oder traditionalen Regeln getroffen, sondern sind wesentlich "irrational" (ebd.).

Kurz zusammengefasst, kann man bei Weber von einer Polarisierung oder Dichotomisierung zwischen Bürokratie und Charisma, zwischen Rationalität und Irrationalität - oder zwischen "Veralltäglichung" und "Außeralltäglichem" sprechen. Nun lässt sich mutmaßen, dass das Bedürfnis nach solchen charismatischen Persönlichkeiten umso größer wird, je mächtiger die Entwicklung zu einem bürokratischen Funktionalismus fortschreitet, zumal wenn in den modernen Demokratien der dritte von Weber (1922, S. 720-724) beschriebene Herrschaftstyp, die "traditionelle Herrschaft" (d. h. patriarchale und ständische Verwaltungsstrukturen) an Bedeutung verliert. Entsprechend meint Steyrer (1995, S.  31) in seiner Monographie über "Charisma in Organisationen", Weber gehe es mit dem Charisma-Konzept darum, "Restbedürfnisse nach Außeralltäglichkeit im Rahmen einer entzauberten Welt theoretisch und definitorisch im Griff zu behalten", um dem "bürokratischen Verfügungsabsolutismus" begegnen zu können; und er habe damit versucht, einen "Rest nichtsozialisierter und nicht sozialisierbarer Individualität und Naturalität" zu beschreiben (Steyrer 1995, S. 31f.). Mit anderen Worten, das Bedürfnis nach charismatischen Persönlichkeiten mag der Sehnsucht nach Freiheit, nach Befreiung aus der schlechten täglichen Routine oder nach den Alltag transzendierenden Bezügen entspringen. Jedenfalls entspricht es solchen Bedürfnissen, wenn sich charismatisch begabte Innovatoren, Reformatoren oder Gründerpersönlichkeiten hervortun und andere Menschen begeistern und an sich binden können; sie können bei ihnen ein Feuer für ihre Sache und zugleich für ihre Person entfachen. Die Fähigkeit, festgefahrene Konventionen (oder ggf. auch Recht und Gesetz) hinter sich zu lassen, kann für viele Menschen Hoffnungen wecken, Emotionen und Handlungsimpulse mobilisieren.

Auch in neuerer Literatur zur Managementforschung wird zunehmend die bürokratische "Funktionslogik des streng sachlichen, emotionsfreien Organisationshandelns" hinterfragt. Man konzediert, dass am Arbeitsplatz auch emotionale Bedürfnisse befriedigt werden, Vorgesetzte sollen ihren Mitarbeitern mit Verständnis und Wärme begegnen können, ihre Intuition und Spontaneität sowie ihre "emotionale Intelligenz" gewinnen an Bedeutung, und dementsprechend bieten Berater Schulungen zu "emotionalen Kompetenzen" an (Schreyögg & Sydow 2001, S. VII; vgl. Kets de Vries 2002). Mit den Emotionen kehren jedoch auch anders geartete Probleme ein: Emotionen sind widersprüchlich und oft schwer zu ergründen und noch schwerer zu kontrollieren; und wer sich emotional öffnet, ist auch leichter kränkbar. Auch für Coaches sind emotionale Anteile oder Hintergründe viel schwieriger zu thematisieren als rational-sachliche Fragestellungen. Dennoch ist es vor allem zum Verständnis von Interaktionen in der Arbeitswelt für Coaches sinnvoll, davon auszugehen, dass Emotionen sowie damit verbundene Ambivalenzen und Kränkungen immer und überall eine mehr oder weniger große Rolle spielen.

2. Das Charisma von Führungskräften - und sein Hintergrund

Wenn ich mich nun dem Charisma von Führungskräften zuwende, so will ich vorweg hervorheben, dass es nicht ausreicht, dies allein als Eigenschaft oder besondere Fähigkeit von Führungskräften in den Blick zu nehmen. Es handelt sich dabei vielmehr um ein interaktives Phänomen zwischen "Führern" und "Geführten" (Neuberger 2002), an dem also prinzipiell beide Seiten in irgendeiner Weise beteiligt sind. So hat schon Weber (1922, S. 725) herausgestellt: Wenn ein charismatischer Führer "des Glaubens der Massen an seine Führungskraft beraubt ist, fällt seine Herrschaft dahin". Anders herum gesagt, eine charismatische Begabung eines Firmeninhabers, Managers oder Institutsleiters kann überhaupt nur dann wirksam werden, wenn sie auf eine entsprechende Bedürfnisstruktur seitens der übrigen Organisationsmitglieder trifft. Wenn ich im Folgenden zunächst auf die Seite der Führungspersönlichkeit fokussiere, so kann dies also immer nur einen Teilaspekt eines umfassenderen Gesamtphänomens darstellen.

In seiner bereits zitierten Arbeit geht Steyrer (1995, S. 12) der Frage nach: "Welche psychische Disposition beim Führenden und den Geführten erhöht die 'Charisma-Affinität', d. h. wer tendiert bewusst/unbewusst dazu, zum Charisma-Träger avancieren bzw. als Fokalperson in charismatischen Führungsbeziehungen fungieren zu wollen und wer unterliegt in einem erhöhten Ausmaß der Attraktion von Charisma?" Zur Beantwortung dieser Frage hat er die Narzissmustheorie, insbesondere die Konzepte Kohuts, als plausibles Erklärungsmuster herangezogen:

"Das psychische Problem der Selbstwertregulierung, wie es die Narzissmustheorien thematisieren, wird m. E. in besonderer Deutlichkeit im Kontext von Führung (Charisma) virulent, weil die Ausübung einer Führerrolle Phänomene wie Macht, Dominanz, Selbstvertrauen, ideale Strebungen, Beziehungsfähigkeit, Selbstinszenierung usw. tangiert. Eine Führerrolle ist geradezu idealtypisch dafür prädestiniert, narzisstische Defizite überkompensierend ausleben zu können bzw. als projektiver Fokus für Dependenz- und Idealisierungsbedürfnisse zu fungieren" (Steyrer 1995, S. 99).

Diese These und einschlägige Erfahrungen im Coaching mit Führungskräften sind der Ausgangspunkt meiner folgenden Darlegungen. Hier begegnen einem Berater häufig Menschen mit narzisstischen Persönlichkeitsanteilen, d. h. Menschen, die auf Grund eines "narzisstischen Defizits" ein besonderes Bedürfnis haben, sich mit herausragenden Leistungen hervorzutun und dafür von Anderen bewundert zu werden oder andere Menschen als von sich abhängig zu erleben. Ihre Antriebskraft für besondere Leistungen oder für eine besondere Karriere kann demnach aus einer verborgenen psychischen Not erwachsen.

Kohut (1976) zufolge sind die Spiegelungs- und Idealisierungsbedürfnisse ubiquitäre frühkindliche Phänomene, und die Frage ist, wie weit daraus ein konstruktives Streben nach Selbstdarstellung und Verwirklichung grandioser Ziele erwachsen kann oder wie weit sie eine fortdauernde narzisstische Zufuhr als neurotische Kompensation von Selbst-Defiziten verlangen. Mit Bezug auf Kohut spricht Steyrer (1995, S. 313 f.) von den "zwei Gesichtern des Charisma", die er als "konstruktiven und destruktiven Narzissmus" beschreibt. Bei einem konstruktiven Narzissmus sind die "neurotischen Bestrebungen (...) gleichzeitig der Motor für schöpferisch-produktive Leistungen und stellen in ihrem Kern die soziale Nützlichkeit der Neurose dar." Dem steht "ein destruktives, von Aggressivität geprägtes und auf Fremdausbeutung (-zerstörung) abzielendes Verhalten" gegenüber, nach dem Motto: "Entweder du bist so, wie ich dich haben will, oder du hörst auf zu existieren" (ebd.), also ein Verhalten, das man als "narzisstischen Machtmissbrauch" beschreiben kann (Schmidt-Lellek 1995).

Bei der Beratung von Führungskräften ist es hilfreich, solche psychodynamischen Hintergründe erkennen und in ihren verschiedenen Ausprägungen unterscheiden zu können. Zum einen ist es sinnvoll, die verborgene Not hinter einer beeindruckenden und auch erfolgreichen Fassade wahrnehmen zu können, um ggf. dem Coachee im Sinne einer Burnout-Prophylaxe beistehen zu können. Zum anderen kann es zu einer Frage der Ethik werden, ob man einen Menschen mit ausgeprägter Neigung zu aggressiver Fremdausbeutung dabei unterstützen will, diese Neigung noch effektiver zu gestalten. Schließlich mag es auch dem Selbstschutz eines Coachs dienen, eine mangelnde Beratbarkeit rechtzeitig erkennen zu können, wenn also ein Klient das Coaching nur zu seiner Bestätigung instrumentalisiert und zu keiner ernsthaften kritischen Auseinandersetzung mit dem eigenen Denken und Handeln bereit ist. Dass ein Coaching nicht der Ort sein kann, solche oft sehr tiefgreifenden intrapersonalen Konflikte anzugehen und zu "therapieren", sei hier jedoch hervorgehoben (vgl. Schmidt-Lellek 2007). Zunächst einige erläuternde Bemerkungen zum Narzissmusbegriff.

3. Narzisstische Kompensation

Umgangssprachlich bezeichnen wir als "Narzisst" jemanden, der ein überzogenes Selbstwertgefühl oder eine ausgeprägte Selbstbezogenheit an den Tag legt, jemanden mit einem starken Selbstbewusstsein, der sich gerne in den Mittelpunkt des jeweiligen Geschehens stellt. Solche Personen werden deshalb gerne von Anderen bewundert oder beneidet, zumal wenn sie auf Grund dieser "Fähigkeiten" besonders erfolgreich sind und in der Öffentlichkeit eine größere Rolle spielen. Dieses Bild stellt allerdings häufig nur die Oberfläche dar, und hinter einem solchen Erscheinungsbild können sich abgründige psychische Probleme verbergen, die durch die genannten Fähigkeiten zu kompensieren gesucht werden. Darüber hinaus werden fachsprachlich unter der narzisstischen Problematik sehr unterschiedliche Erscheinungsformen gefasst, von denen das eben genannte Bild nur eine darstellt.

Generell handelt es sich bei der narzisstischen Problematik um die Regulierung des Selbstwertgefühls. Dieses ist im Prinzip bei allen Menschen anfechtbar oder unsicher; wir alle sind darin kränkbar und bestrebt, es zu schützen bzw. zu stabilisieren. Die Möglichkeiten dafür können allerdings sehr unterschiedlich sein, zum einen vielleicht wegen unterschiedlicher Begabungen, zum anderen und vor allem auf Grund unterschiedlicher biographischer Hintergründe: Wenn wir von einem "gestörten Narzissmus" reden, so ist damit eine Selbstwertproblematik gemeint, die ihre Wurzeln meistens in der frühkindlichen Entwicklung hat. Die Grenzen zwischen einem "gestörten" und einem "normalen Narzissmus" (im Sinne einer durchschnittlichen Kränkbarkeit) sind dabei fließend. Von entscheidender Bedeutung ist jedenfalls, welche Ressourcen ein Mensch in seiner späteren Entwicklung zur Verfügung hat oder zu entwickeln in der Lage ist. Je breiter gestreut diese Ressourcen sind, desto stabiler wird das Selbstwertgefühl sein; andersherum gesagt, je schmaler sie sind bzw. je größer die kompensatorische Bedeutung eines einzelnen Persönlichkeitsbereichs ist, desto bedrohter wird das Selbstwertgefühl z. B. in Konflikt- oder in Krisensituationen sein.

Um diese Ressourcen zu eruieren, ist in dem Bereich, der hier zur Debatte steht, naturgemäß eine besondere Leistungsfähigkeit zentral, zumal Coaching in der Regel ja deren Steigerung oder Stabilisierung intendiert. Hier kann es bereits diagnostisch bedeutsam sein, zu erfassen, wie weit es sich um eine kompensatorische Funktion der betreffenden Persönlichkeit handelt oder ob die berufliche Leistungsfähigkeit eingebettet ist in stabile andere Lebensbereiche. Diese lassen sich in Anlehnung an das heuristische Modell der "Fünf Säulen der Identität" (Heinl und Petzold 1980) folgendermaßen differenzieren:
(1) Die Leiblichkeit (körperliche Belastbarkeit und Vitalität, gesundheitliche Stabilität oder Anfälligkeit, Attraktivität, Umgang mit dem Älterwerden, Identität als Mann bzw. als Frau usw.).
(2) Das soziale Netz (Familie, Freunde, Verwandte, Zugehörigkeit zu Vereinen oder Gruppen usw.; wie stabil und zuverlässig ist das soziale Netz?)
(3) Arbeit und Leistung (Leistungsfähigkeit und -motivation, Befriedigung durch berufliche Arbeit; wie weit entspricht der Inhalt der Arbeit den eigenen Interessen?).
(4) Die materielle Sicherheit (finanzielle Situation, Wohnsituation, Absicherung im Alter und in Krisenfällen usw.).
(5) Die Wertorientierung (das Erleben von Sinnhaftigkeit seines Handelns, politische, ethische, religiöse Überzeugungen usw.).

Alle diese Bereiche können zur Stabilisierung des Selbstwertgefühls kompensatorisch überbewertet werden, wenn die jeweils anderen Bereiche zu wenig oder gar nicht zur Geltung kommen bzw. nicht entwickelt werden. Zur Veranschaulichung sind z. B. folgende Situationen vorstellbar: Für einen Schauspieler, einen Balletttänzer oder ein Model kann körperliche Attraktivität eine so zentrale Rolle spielen, dass es durch die Alterungsprozesse zu schweren Krisen kommt, wenn die anderen Bereiche nicht ausreichend entwickelt sind; für einen Partyveranstalter oder einen Fernsehmoderator kann es zur alleinigen Raison dêtre werden, möglichst viele Menschen zu kennen; ein Börsenspekulant kann in Depressionen geraten, wenn die Kurse fallen; und selbst der Bereich der Werte kann überbewertet werden, wenn jemand sich mit einer Ideologie so stark identifiziert oder sich für eine gute Sache so sehr engagiert, dass alles andere zu kurz kommt oder übersehen wird, und wenn dann ein Glaubenssystem oder eine Ideologie zusammenbricht (wie z. B. jüngst mit dem System des Kommunismus geschehen), kann auch das eigene Wertgefühl Schaden nehmen oder verloren gehen.

Wenn also in einer Coachingsituation der Eindruck entsteht, dass der Bereich der beruflichen Arbeit zu sehr überbewertet wird, dann ist es nicht unbedingt ratsam, in der Beratung allein auf diesen Bereich zu fokussieren; vielmehr wäre ein wackeliges Gesamtsystem einer Persönlichkeit besser dadurch zu stabilisieren, dass auch die anderen "Stützpfeiler" stärker beachtet und gepflegt werden. Ein Herzinfarkt in mittleren Lebensjahren oder ein psychischer Zusammenbruch oder gar Todesfall kurz nach der Berentung kann rückblickend als Hinweis darauf zu verstehen sein, dass der Bereich Arbeit und berufliche Leistung überbewertet worden ist.

Es sei angemerkt, dass es oft nicht eindeutig ist, wie weit es sich um eine individuelle Pathologie (im Sinne von nicht oder nicht ausreichend bewältigten persönlichen Lebenskonflikten) handelt und wie weit dabei kollektive, gesellschaftliche Wertorientierungen maßgeblich beteiligt sind. In einer "Leistungsgesellschaft" wie der deutschen haben Arbeit und Leistung nach der Katastrophe der Nazizeit und des II. Weltkriegs über lange Zeit sicher auch kompensatorische Funktionen erfüllt, und solche kollektiven Kompensationen haben zwangsläufig Auswirkungen auf individuelle Biographien gehabt und haben es als Generationen übergreifende Haltung mutmaßlich bis heute (in anderen Ländern mögen andere Haltungen oder auch anders motivierte Kompensationsbedürfnisse vorrangig sein).

Als weitere Einschränkung im Hinblick auf die Frage, wie weit es sich um eine individuelle Pathologie handelt, ist zu berücksichtigen, dass auch der jeweilige Kontext bzw. die Unternehmenskultur auf das Verhalten und das Selbstverständnis eines Coaching-Klienten einen Einfluss haben kann. Z. B. werden der Geschäftsführer einer Werbeagentur oder der Marketingchef eines Automobilkonzerns eine anders geartete (kulturbedingte) Selbstinszenierung an den Tag legen als etwa der Leiter eines medizinischen Forschungslabors oder der Leiter eines Finanzamts. Allerdings kann auch der Einfluss einer narzisstisch geprägten Unternehmenskultur ("Alles-oder-Nichts-Kultur", vgl. Schreyögg 2003, S. 34) auf Dauer durchaus pathologisierende Wirkungen auf den Einzelnen haben - abgesehen davon, dass die Entscheidung, in welche Unternehmenskultur sich jemand zur Verwirklichung seiner beruflichen Karriere hineinbegibt, in der Regel auf Grund bewusster oder unbewusster innerer Affinitäten erfolgt.

4. Narzissmus in Beziehungen

Schaut man auf die im Coaching zu bearbeitenden Themen, so stellt sich die Frage, wie sich narzisstische Persönlichkeitsstrukturen in der Arbeitswelt auswirken. So möchte ich nun den Blick auf die Beziehungsdynamiken lenken und dazu vorweg noch einmal betonen, dass Narzissmus nicht allein als individuelles, sondern auch als interaktives Phänomen zu betrachten ist, also als eine Beziehungsdynamik, an der mehrere Personen beteiligt sind oder sein können. Auch ganze Institutionen können davon affiziert sein, sodass man dann von einem "kollektiven Narzissmus", etwa im Rahmen einer narzisstischen Unternehmenskultur sprechen kann. Eine solche Unternehmenskultur kann durch eine narzisstische Führungspersönlichkeit wesentlich beeinflusst sein, da "die vorherrschende psychologische Ausrichtung der Schlüsselpersonen in einer Organisation die wichtigsten Determinanten des neurotischen Stils dieser Organisation bildet" (Kets de Vries 2002, S. 128). So gehe ich zur Erläuterung dieser Dynamik wiederum vom Einzelnen aus.

Für eine narzisstisch gestörte Persönlichkeit ist es schwer, das jeweilige Gegenüber in seiner Eigenheit und in seinem Anderssein wahrzunehmen, geschweige denn anzuerkennen - ebenso wenig wie letztlich sich selbst, wenn man nicht nur die glanzvollen, starken Seiten, sondern auch die düsteren, schwachen als zur eigenen Persönlichkeit gehörend ansieht. Andere Menschen dienen ihr dann hauptsächlich als Spiegel (vor allem ihrer glanzvollen Persönlichkeitsanteile), als Versicherung ihres Selbst und als Bestätigung ihres Selbstwertgefühls, das ansonsten bedroht scheint. Ein Narzisst kann sein Gegenüber loben und anerkennen, wenn dieser ihm zu Diensten ist, seine Meinung teilt oder Andersdenkende kritisiert und ablehnt. Mit Johnson (1988, S. 63) lässt sich behaupten, dass ein Narzisst generell dazu neigt, andere Menschen zu Objekten seiner eigenen Bedürfnisse, Beurteilungen, Behandlungen usw. zu machen und eine wahrhaftige, dialogische Begegnung mit einem wechselseitigen Geben und Nehmen gar nicht entstehen zu lassen.

Zur weiteren begrifflichen Verdeutlichung von narzisstisch geprägten Beziehungsstrukturen möchte ich die von Kohut und Wolf (1980) entwickelte Typologie narzisstischer Persönlichkeiten zitieren. Die ersten drei dieser Charaktertypen sind in ihren Augen "im Alltagsleben häufig anzutreffen und sollten im Allgemeinen nicht als Formen von Psychopathologie angesehen werden, sondern vielmehr als Varianten der normalen menschlichen Persönlichkeit mit ihren Vorzügen und Defekten"; allerdings kann eine starke Ausprägung auch als pathologisch gelten - mit destruktiven Auswirkungen auf sich und andere. Erst die beiden letzten Typen werden generell "dem Spektrum des pathologischen Narzissmus zugeordnet" (S. 678):

(1) "Nach Spiegelung hungernde Persönlichkeiten sind begierig nach Selbstobjekten, deren bestätigende und bewundernde Reaktionen ihr ausgehungertes Selbst nähren. Es treibt sie, sich zur Schau zu stellen und die Aufmerksamkeit Anderer zu erregen in dem Versuch, ihrem inneren Gefühl von Wertlosigkeit und ihrem Mangel an Selbstwertgefühl entgegenzuwirken." - Dieser Typus entspricht am ehesten dem Bild des "Narzissten", wie es im allgemeinen Sprachgebrauch üblich ist, charakterisiert durch ein hohes Maß an Egozentrik.

(2) "Nach Idealen hungernde Persönlichkeiten sind ständig auf der Suche nach Anderen, die sie wegen ihres Prestiges, ihrer Macht, ihrer Schönheit, Intelligenz oder ihrer moralischen Größe bewundern können. Sie sind nur solange fähig, sich als wertvoll zu erleben, wie sie sich mit Selbstobjekten in Verbindung zu bringen vermögen, zu denen sie aufblicken können." - In anderen Kontexten werden diese Persönlichkeiten als "Co-Narzissten" oder als "Komplementär-Narzissten" bezeichnet.

(3) "Alter-ego-hungrige Persönlichkeiten brauchen eine Beziehung zu einem Selbstobjekt, das, indem es der Erscheinung, den Meinungen und Werten des Selbst entspricht, die Existenz, die Realität des Selbst bestätigt, (...) Beziehungen, in denen jeder Partner die Gefühle des Anderen erlebt, als seien es seine eigenen. (...) Es ist charakteristisch für die meisten dieser Beziehungen, dass sie kurzlebig sind. Wie der nach Spiegelung und Idealen Hungernde neigt auch der alter-ego-Hungrige dazu, einen Ersatz nach dem anderen zu suchen."

(4) "Nach Verschmelzung hungernde Persönlichkeiten fallen uns durch ihr Bedürfnis auf, ihre Selbstobjekte zu kontrollieren. (...) Weil das Selbst (...) schwer defekt oder geschwächt ist, brauchen sie Selbstobjekte, um die fehlende Selbst-Struktur zu ersetzen. (...) Weil sie den Anderen als ihr eigenes Selbst erleben, können sie seine Unabhängigkeit nicht ertragen: Sie sind sehr empfindlich gegen Trennungen von ihm und fordern - ja, erwarten fraglos - die beständige Anwesenheit des Selbstobjekts."

(5) "Kontaktvermeidende Persönlichkeiten (...) isolieren sich, nicht weil sie kein Interesse an Anderen hätten, sondern im Gegenteil deshalb, weil ihr Bedürfnis nach ihnen so intensiv ist. Die Intensität ihres Bedürfnisses führt nicht nur dazu, dass sie sehr empfindlich gegen Zurückweisung sind (...), sondern auf tieferen und unbewussten Ebenen auch zu der Befürchtung, die Reste ihres Kern-Selbst würden von der ersehnten, allumfassenden Vereinigung verschluckt und zerstört werden." (Kohut und Wolf 1980, S. 678f.)

Auf diesem Hintergrund kann man sich z. B. die Situation vorstellen, dass ein Mitarbeiter, der entsprechend dem zweiten Charaktertypus insbesondere nach Partnern sucht, die er idealisieren kann, auf einen Chef trifft, der entsprechend dem ersten Charaktertypus insbesondere solche Partner sucht, von denen er bewundert werden kann. Dies wäre eine Beziehungskonstellation, in der oberflächlich gesehen die Bedürfnisse von beiden Beteiligten - zumindest zeitweilig - befriedigt werden: Der Chef braucht seinen Mitarbeiter, um sich seines eigenen Wertes zu vergewissern; in dessen bewundernden Augen kann er sich als der Großartige, Mächtige, Souveräne bestätigt sehen (was z. B. in der Pionierphase eines Unternehmens eine Zeit lang zu deren Entwicklung durchaus förderlich sein kann). Und der Mitarbeiter braucht seinen Chef vielleicht dazu, sich durch eine Teilhabe an dessen Großartigkeit selbst als großartig zu erleben (was für ihn eine Zeit lang durchaus bereichernd sein kann, indem er auf diese Weise zu Erfahrungen und zum Erleben von eigenen Kompetenzen gelangt, die ihm sonst verschlossen geblieben wären). Auf die Dauer aber wird es schwierig werden, eine kreative, sachbezogene und lösungsorientierte Arbeitsbeziehung aufrecht zu erhalten, denn beide Interaktionspartner können bei einer solchen Konstellation in ihrer kritischen Wahrnehmungsfähigkeit und damit auch in ihrer persönlichen Entwicklung blockiert sein: Der Chef wird ein offenes, kritisches Feedback nicht ertragen, wenn er dadurch sein Selbstbild in Frage gestellt sieht. Und der untergebene Mitarbeiter wird nur solche Äußerungen machen, von denen er meint, dass sie seinem Chef gefallen, ja, in langjährigen Arbeitsbeziehungen kann dies so weit gehen, dass er überhaupt nur noch so empfindet und urteilt, wie es sein Chef erwartet (bzw. zu erwarten scheint), sodass er schließlich sein eigenes Urteilsvermögen und damit seine Spontaneität und Kreativität weitgehend verliert.

5 Narzisstische Kollusion

Diese Beziehungskonstellation lässt sich in Anlehnung an Jürg Willi (1975) als "Kollusion" begreifen. Willi hat das Kollusionskonzept für die Paartherapie entwickelt und zusammenfassend folgendermaßen definiert:

"Kollusion meint ein uneingestandenes, voreinander verheimlichtes Zusammenspiel zweier oder mehrerer Partner auf Grund eines gleichartigen, unbewältigten Grundkonfliktes. Der gemeinsame unbewältigte Grundkonflikt wird in verschiedenen Rollen ausgetragen, was den Eindruck entstehen lässt, der eine Partner sei geradezu das Gegenteil des anderen. Es handelt sich dabei aber lediglich um polarisierte Varianten des gleichen" (Willi 1975, S. 59).

Als ein Beispiel einer Kollusionsbeziehung nennt Willi die "narzisstische Kollusion" (S. 65 ff.), in der ein Narzisst (in der progressiven, eher aktiven Position) und ein "Komplementärnarzisst" (in der regressiven, eher passiven Position) zusammenfinden. Beide können dabei die jeweils abgespaltenen Anteile, die das eigene Selbstwertgefühl bedrohen, auf den anderen projizieren bzw. im anderen statt in sich selbst erleben und damit deren Bedrohlichkeit entschärfen. Z. B. kann der eine in der aktiven Rolle, der nach außen hin Glanz und Macht darstellt, seine Gefühle von Ohnmacht, Kleinsein oder seine Selbstzweifel an den anderen delegieren, während dieser in der passiven Rolle, der sich nach außen hin bescheiden, zurückhaltend und moralisch zeigt, wiederum seine Größenphantasien, die vielleicht auch mit sadistischen Impulsen gepaart sind, an den ersten delegieren kann. In dieser Weise scheinen zwei Partner harmonisch zusammenzupassen, sodass die Bedürfnisse von beiden vordergründig befriedigt werden.

Solche scheinbar harmonischen Kollusionsbeziehungen können auch in organisatorischen Kontexten durchaus von Dauer sein, ja sie können zu suchtartigen wechselseitigen Abhängigkeiten führen, indem beide Partner des Geschehens den Anderen brauchen und benutzen, um die Leere in sich selbst nicht zu spüren. Auf längere Sicht ist dabei aber mit destruktiven Auswirkungen auf die Persönlichkeit der Beteiligten zu rechnen. So können etwa eine Depression oder ein Burnout ein Ausdruck davon sein, dass die betreffende Person von den eigenen Ressourcen abgeschnitten ist, dass sie den Zugang zu ihrer Kreativität und ihrem kritischen Urteilsvermögen verloren hat. Solche Beziehungskonstellationen können aber auch für den Fortbestand einer Firma oder einer Organisation fatale Folgen haben, wenn eine offene Auseinandersetzung mit sich verändernden Kontextbedingungen dadurch blockiert wird. Das Scheitern eines Betriebs oder einer Institution kann durch solche Beziehungsdynamiken zumindest mitverursacht sein.

Für einen Coach wird es allerdings manchmal außerordentlich schwierig sein, solche Beziehungsmuster zu durchbrechen, da sie in den Haltungen und Umgangsweisen der Beteiligten tief verankert sein können und da deren kritische Hinterfragung für manche tatsächlich eine Bedrohung ihres psychischen Systems darstellt (so spricht z. B. Schreyögg, 1996, von einer "Unberatbarkeit charismatischer Sozialmanager"). Hinzukommt, dass ein Berater von außen oft erst in zugespitzten Krisensituationen (z. B. zwischen den Beteiligten oder sogar im Hinblick auf den Fortbestand der Firma) herangezogen wird, wenn eigentlich schon alles zu spät ist.

Das Kollusionskonzept ist sinnvoll, um eine bestimmte Beziehungskonstellation verständlich zu machen, die sich in vielen Kontexten auffinden lässt. Aber es beleuchtet eine Beziehungsdynamik von Partnern, die sich grundsätzlich auf gleicher Ebene begegnen, zumal es für die Paartherapie formuliert worden ist. Für das Verständnis von Beziehungsdynamiken in hierarchisch strukturierten Organisationen ist jedoch außerdem der Aspekt der institutionalisierten Macht zu berücksichtigen. Wenn sich nun formelle (hierarchische) Macht mit einer narzisstischen Beziehungsdynamik vermischt, die ihrerseits von Machtstreben, Unterdrückung, Entwertung oder der Angst davor durchdrungen ist, dann können daraus narzisstische Verstrickungen werden, die für einen Coach, in einer Beratungssituation damit konfrontiert, schwer zu entwirren sind. Umso wichtiger ist es hier, ein diagnostisches Rüstzeug in der Hand zu haben, um unterscheiden zu können, was eine normale und sachlich notwendige Ausübung von Macht z. B. eines Managers in einer Organisation ist und was als narzisstisch motivierte Machtausübung zu beurteilen ist. Je größer letzterer Anteil ist, desto wahrscheinlicher wird jedenfalls eine missbräuchliche Machtausübung.

6. Zur Diagnostik von narzisstischen Dynamiken - das "ausgedehnte Selbst"

Das wichtigste Diagnose-Instrument ist die Person des Beraters selbst. Narzisstische Dynamiken vermitteln sich nicht zuletzt als Atmosphäre, die einem Berater oder Coach unversehens unter die Haut gehen kann: Wenn ich mich in einem Gespräch plötzlich ganz unfähig, klein, minderwertig und irgendwie gelähmt fühle, dann kann ich ziemlich sicher davon ausgehen, dass ich mit einer narzisstischen Dynamik in meinem Gegenüber in Berührung gekommen bin. Diese Erfahrung hat Petermann (1988) unter die Lupe genommen und dazu einen detaillierten Katalog von Kriterien erarbeitet, mit dessen Hilfe sie sich differenziert überprüfen lässt. Ich möchte den Beitrag von Petermann etwas ausführlicher zitieren, da er zu einem genaueren Wahrnehmen und Verstehen von narzisstischen Beziehungskonstellationen und auch von narzisstisch motiviertem Machtmissbrauch beitragen kann.

Petermann geht es darum, Narzissmus nicht nur als individuelles psychopathologisches Phänomen zu begreifen, wie er in der psychoanalytischen Literatur meistens beschrieben wird, sondern auch als interaktives Phänomen. So widmet er narzisstischen Beziehungsstrukturen eine besondere Aufmerksamkeit, also Dynamiken, an denen mehrere Personen beteiligt sind. In den bereits dargelegten Begriffen gesagt: Ein Top-Narzisst kann seinen Narzissmus nur dann erfolgreich ausleben, wenn er es mit dazu passenden Komplementär-Narzissten zu tun hat. Auch Petermann betont, dass solche narzisstischen Beziehungsdynamiken ganz alltäglich sind und "sich in (...) vielen verschiedenen menschlichen Kontexten wiederfinden" (S. 40). Trotzdem könne man in diesem Zusammenhang von "Beziehungspathologie" sprechen; diese werde aber deshalb so schwer wahrgenommen, weil sie "auch Teil unserer Kultur" sei (ebd.). Zum näheren Verständnis des Narzissmus verwendet der Autor den Begriff "expanded self" (das "ausgedehnte Selbst"):

"Das expanded self stellt einen wesentlichen Aspekt der narzisstischen Persönlichkeit dar. Jemand, der ein expanded self herstellt, hat eine grundsätzlich vereinnahmende innere Haltung seiner Umwelt gegenüber. Dies bedeutet, dass der andere nicht jemand sein darf, der von diesem Selbst getrennte Impulse, Bedürfnisse sowie Weltsichten hat. (...) Die Handlungen der anderen werden wie magisch vom narzisstischen expanded self so erlebt, als seien sie eigentlich die Folge der Intentionen des betreffenden Narzissten. (...) Expanded self stellt eine spezielle, gespaltene Form von Verbundenheit her: Es ist die Erweiterung des Selbst auf die Art und Weise, dass die Welt - insbesondere andere Menschen - einerseits bewusst außerhalb vom Selbst erlebt werden, jedoch andererseits unbewusst als Teil des Selbst gesehen werden" (Petermann 1988, S. 31).

Das expanded self hat die Funktion, eine narzisstische Charakterstruktur zu stabilisieren:

"Es schützt das Selbstwertgefühl des Betreffenden vor dem Erleben schwerer Einbrüche in einer inneren Welt, in der es tendenziell nur 'Supermann oder Arsch' (Zitat eines Klienten) gibt. Das expanded self funktioniert also so: Wenn es mir gelingt, andere darin zu halten, gewinne ich Macht und werde in seinem subjektiven Erleben größer. Durch polarisierende Kontrastwirkung gelingt dies umso mehr, je kleiner der andere wird. Der andere wiederum wird im gleichen Maße kleiner, da seine Impulse ständig durch fremde Definitionen überlagert werden und er so sein Gefühl für sich selbst verliert. (...) Meistens weist die Dynamik dieser Beziehung also eine einseitige Richtung, ein Gefälle auf: Der eine befindet sich im expanded self des anderen und ist gewissermaßen Empfänger gegenüber dem Sender" (S. 32).
Petermann nennt eine Reihe von Kriterien, die ein expanded self erkennen lassen. Es sind Aspekte, die je für sich genommen "weder gesund noch neurotisch sind" und die erst in ihrer Häufung die Atmosphäre einer narzisstischen Beziehungsstruktur vermitteln (S. 33). Sie seien hier zitiert, da sie mir geeignet erscheinen, verborgene Beziehungsdynamiken erkennbar werden zu lassen (S. 32 f.):


"Woran kann ich bei mir selbst erkennen, dass ich mich im expanded self eines anderen befinde?
- Mein Selbstwert geht zurück; dieser Prozess wird häufig durch meine Rationalisierungen verdeckt. Auch, wenn ich nicht so sehr dazu neige, mich zu vergleichen, wird solch ein Zug dennoch in mir aktiviert, und ich erlebe den anderen als größer, besser, fähiger und - wenn dieser in der Helferposition ist - als großzügiger und wohlmeinender als mich selbst.
- Ich verliere meine Spontaneität. D. h. meine unmittelbaren Impulse, die ich in einer andersgearteten Beziehung leicht leben kann, spüre ich kaum noch.
- Das neurotische Potenzial in meinem Verhalten nimmt zu. Ich verhalte mich nicht meinem gesunden Potenzial entsprechend, werde meinen Möglichkeiten nicht gerecht und fühle, dass das, was ich tue, ich eigentlich nicht will. Mein Verhaltenspotenzial wird eingeschränkt, meine Reaktionsbildungen nehmen zu.
- Ich fühle mich mit meinem Bild von mir selbst und in mir selbst diffus unbehaglich und merke, wie ich anfange, einem fremden Bild von mir zu entsprechen. Ich beginne, die auf mich gerichteten Projektionen des anderen zu verkörpern.
- Ich werde in der aktuellen Situation unempfindlich und blind gegenüber unverschämten, anmaßenden oder verletzenden Äußerungen meines Gegenübers, sehe diese vielleicht sogar rationalisierend im Sinne der 'offiziellen' Intention des anderen in einem positiven Licht - und merke dies allenfalls hinterher, sozusagen 'in der Beziehungspause'.
- Ich drücke meinen diffusen, gestauten Konflikt durch Agieren aus, so, wie es meinem eigenen neurotischen Potenzial entspricht. Unter 'Agieren' sind hier auch somatische Phänomene gemeint. Sie können von allgemeinen Stresserscheinungen, Kopfschmerzen, Übelkeit bis hin zu schweren Erkrankungen reichen, wenn das Ausmaß der narzisstischen Beziehungsstruktur sowie die eigene Disposition entsprechend gravierend sind.
- Ich spüre, wie ich beeinflusst werde, jedoch mein Gegenüber nicht mit meinen wirklichen Impulsen beeinflussen kann. Es ist, als wäre mein Einfluss auf das Gegenüber bereits von diesem vorweggenommen, sofern überhaupt eine Zugänglichkeit besteht.
- Ich tendiere dahin, mich anders zu verhalten, als ich es gewohnt bin, und fühle mich in solchen Kontakten diffus angestrengt.

Woran erkenne ich beim anderen, dass dieser ein expanded self mit mir herstellt?
- Je nach dessen Niveau, ob grob oder indirekt subtil, gibt der andere ein Bild von sich, welches einem Idealselbst entspricht. Dieses Bild kann so geschlossen und rund sein, dass es geeignet ist, idealisierende Faszination auszulösen. Es fehlen die Bruchstellen. Ich kann dies jedoch erst erkennen, wenn ich meine eigenen Idealisierungstendenzen kennen gelernt und durchgearbeitet habe.
- Der andere wird unangenehm, wenn ich seine Definition von mir zurückweise oder versuche, mich selbst zu definieren. In seinen Äußerungen ist eine unausgesprochene Forderung nach Übereinstimmung enthalten. Unangenehm kann hier heißen: Von der subtilen Manipulation, unerbetenem Psychologisieren, impliziter Entwertung bis hin zur offenen, bedrohlichen Handlung (Anschreien, Verlassen, 'zur Sau machen'). In jedem Fall entsteht daraufhin eine schwer erklärbare und schwer auflösbare Spannung in der Beziehung.
- Der andere belohnt mich, wenn ich bereit bin, sein idealisiertes Selbstbild zurückzuspiegeln. Die Beziehung entspannt sich, es entsteht Harmonie.
- Der andere gibt Informationen über sich - sei es durch sein direktes Verhalten, seine Körpersprache oder durch indirekte Äußerungen -, die deutlich machen, wie sehr ihm an kontrollierender Macht sowie an seinem Bild von sich selbst liegt.

Woran erkenne ich bei mir, dass ich ein expanded self mit anderen herstelle?
- Meine Tendenz zu senden ist deutlich ausgeprägt; hingegen ist meine Bereitschaft und Fähigkeit zu empfangen gering entwickelt. Ich verspüre dann eine Art Unwilligkeit in mir, die entsteht, wenn andere mir gegenüber 'auf Sendung' gehen. Diese Unwilligkeit kann sich verschieden äußern: einmal als scheinbares Empfangen, als 'geduldiges' Zuhören, mit einer inneren Haltung von 'ich lasse gewähren', oder ich begegne den Äußerungen des anderen so, dass ich sie sogleich im Sinne meiner Definition umdefiniere, sie gewissermaßen 'richtig stellen' muss.
- Meine Intention ist es zu beeinflussen. Jedoch scheue ich jeden Einfluss von außen, der nicht bereits innerhalb meiner Definition vorgesehen ist. Ich tendiere dahin, die anderen mit mir selbst zu 'überrollen'.
- Mein Gefühl von mir selbst ist eines von Ausdehnung, Brillanz, Genialität, 'richtig sein' - was auch bedeuten kann: 'Ich fühle mich im Recht' - und hoher Energie. Meine Mitmenschen bescheinigen mir dann mangelnde Selbstkritik. Ich fühle mich so, weil ich mich zunehmend mit meinem idealen Image verwechsle.
- Dadurch verliere ich den Boden unter den Füßen. Es ist, als ob ich 'abhebe'. Wenn ich jedoch völlig mit meinem Idealselbst verschmolzen bin, kann ich dies nicht mehr wahrnehmen. Dem Verlust des 'Bodens unter den Füßen' entspricht der Kontaktverlust zu meinem wirklichen Selbst sowie zu den wirklichen anderen.
- Ich vermeide, von anderen überrascht und berührt zu werden. Wenn es dennoch geschieht, entwerte ich den anderen durch Rationalisieren und Umdefinieren ('dies macht der/die ja nur, weil ...'). Auch da, wo ich andere schlecht behandelt und Schuld auf mich geladen habe oder etwa im Unrecht bin, vermeide ich kunstfertig, mich zu schämen oder mich schuldig zu fühlen.
- Ich fühle mich nach solchen Begegnungen, besonders, wenn ich nicht so stabil und bruchlos mit meinem Idealselbst verschmolzen bin, häufig innerlich hohl, erschöpft und einsam. Ich habe dann das Gefühl, dass mir etwas fehlt."

Mit diesem Katalog werden die manipulativen Machtstrategien und damit auch Formen des Machtmissbrauchs in narzisstisch geprägten Beziehungsstrukturen erkennbar. Es wird deutlich, worin eine subtile Machtausübung bestehen kann, die über die institutionell definierten Machtstrukturen hinausgeht und die nicht rational nachvollziehbar ist. Es sei noch einmal betont, dass trotz dieser als "Beziehungspathologie" beschriebenen Dynamiken die glanzvollen, kreativen Anteile darin nicht unbedingt ihren Wert verlieren: Weder die besonderen Begabungen einer charismatischen Persönlichkeit noch deren Werke sollten mit der Feststellung eines narzisstischen Hintergrunds diskreditiert werden. Vielleicht müssen sie sogar besonders geschützt werden, denn in einer Krisensituation oder nach dem Ausscheiden eines charismatischen Leiters oder nur nach der Auflösung einer narzisstischen Kollusionsdynamik (wenn z. B. unterstellte Mitarbeiter sich nicht mehr kritiklos dem Willen des Chefs unterwerfen) besteht die Gefahr, dass nach dem Prinzip des "Alles-oder-Nichts" die aufgebauten Werte in "narzisstischer Wut" wieder zerstört werden ("nach mir die Sintflut").

7. Zusammenfassende Hinweise für die Coaching-Praxis

Führungskräfte mit starken narzisstischen Anteilen kommen meistens erst sehr spät - wenn überhaupt - in zugespitzten Krisensituationen oder nach einem schweren Einbruch in ihrer Karriere auf die Idee, eine Beratung in Anspruch zu nehmen. Hinter groß tönenden Aussagen wie z. B.: "So etwas habe ich doch nicht nötig, Coaching ist für die Schwachen!" verbirgt sich in der Regel eine große Angst vor einer Entwertung.

Wenn man davon ausgeht, dass narzisstisch gestörte Persönlichkeiten ein fragiles Selbstwertgefühl haben, ist im Hinblick auf Konfrontationen ein besonders behutsames Vorgehen erforderlich: Kritik und eine Aufforderung zu veränderten Perspektiven ist überhaupt nur möglich und erfolgversprechend, wenn zuvor eine stabile Basis von wertschätzender Bestätigung der Person entstanden ist (was etwas anderes ist als eine Bestätigung ihres Verhaltens). Allein um eine solche Basis herzustellen, braucht man Zeit. Besonders in Krisensituationen ist zunächst vor allem Entlastung erforderlich, bevor überhaupt die innere Bereitschaft zur Veränderung von Wahrnehmungs-, Beurteilungs- und Handlungsmustern entstehen kann. Vielleicht ist manchmal die Entlastungsfunktion die einzig mögliche, um den inneren Antreiber zu Spitzenleistungen ein wenig zu besänftigen, ohne dass sich sogleich ein massives Versagensgefühl ausbreitet. Bei sehr ausgeprägter narzisstischer Pathologie oder in einer schwereren persönlichen Krise kann es sinnvoll oder notwendig sein, dass der Coach einen Psychotherapeuten hinzuzieht bzw. an seinen Klienten eine entsprechende Empfehlung ausspricht.

Um eine narzisstische Beziehungsstruktur aufweichen zu können, ist es erforderlich, dass der Coach seine eigenen narzisstischen Anteile bzw. seine diesbezügliche Ansprechbarkeit möglichst gut kennt. Auf diese Weise kann er sich wappnen gegenüber möglichen Entwertungen oder im Gegenteil gegenüber Lobhudeleien seitens seines Gegenübers. Genauer gesagt, er muss unterscheiden können, was ein aufmerksames kritisches oder anerkennendes Feedback ist und was nur Projektionen sind, in denen das "expanded self" des Anderen zum Ausdruck kommt und die einen zu narzisstischen Verstrickungen einladen. Hilfreich dafür ist sicher eine kontinuierliche Reflexion der eigenen Arbeit im Austausch mit Kollegen oder in einer Supervision.

Generell liegt die Überwindung von narzisstischer Kompensationsbedürftigkeit einerseits in dem innersten Abschied von grandiosen Selbstbildern bzw. von verdeckten Allmachts- oder Unfehlbarkeitsphantasien. Zu akzeptieren, dass nicht alle Ziele erreichbar sind, dass man Fehler machen kann und die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind, kann eine tiefgehende Trauerarbeit erfordern. Dabei geht es auch darum, seine Endlichkeit und die Überholbarkeit seines Denkens und Handelns zu akzeptieren. Und dies setzt andererseits voraus, dass man sich seines Selbst hinreichend sicher ist - und dazu gehört eben auch, eine wahrhaftige, realitätsbezogene Anerkennung und Wertschätzung, wenn sie einem zuteil wird, annehmen und genießen zu können.


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