Dr. phil. Christoph J. Schmidt-Lellek
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Was heißt "dialogische Beziehung" in berufsbezogener Beratung (Coaching und Supervision)?
Das Modell des Sokratischen Dialogs

(Erschienen in: OSC 8 (3), 2001, S. 199-212, hier überarbeitert)

1. Einleitung

Beratung jeglicher Art ist ein Interaktionsgeschehen zwischen Menschen, die sich - in unterschiedlichen Rollen - um die Beantwortung von Fragen und die Lösung von Problemen bemühen. Das wechselseitige Verstehen, vor allem vermittelt durch Sprache, ist dabei eine wesentliche Voraussetzung für die Qualität und den Erfolg einer Beratung. Das Verstehen des jeweiligen Gegenübers sowie des jeweils verhandelten Problems ist jedoch nicht nur eine Frage der sprachlichen Verständigung, sondern wird darüber hinaus auch durch die Art und Weise der Begegnung zwischen den Beteiligten geprägt: Wenn zwei Menschen "sich gut verstehen", "gut miteinander können" usw., dann ist zumeist auch die sprachliche Verständigung kein unlösbares Problem. Deshalb ist es generell unabdingbar, neben den vielen anderen (institutionellen, konzeptionellen, situativen usw.) Faktoren, die das Gelingen einer beratenden Interaktion beeinflussen, auch auf die Beziehung zwischen den beteiligten Menschen zu schauen, sie zu reflektieren und ggf. auch in der Beratungssituation selbst zu thematisieren.

In den meisten Ausrichtungen der Psychotherapie gehört es seit je zum Standard der professionellen und ethischen Selbstreflexion, den Aspekt der Beziehung zwischen den beteiligten Personen ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen: Was geschieht zwischen Menschen, die in unterschiedlichen Rollen und mit unterschiedlichen Bedürfnissen sich aufeinander einlassen? Was sind die wechselseitigen Wahrnehmungen und Beurteilungen? Wie verhalten sich die fachlich-professionellen Aspekte und die allgemein-menschlichen Aspekte zueinander, wenn die Grundfragen menschlicher Existenz in der Begegnung zwischen zwei (oder mehr) Personen thematisiert werden? Und wie beeinflussen die unendlich komplexen kognitiven und emotionalen wechselseitigen Reaktionen bzw. Resonanzen das eigentliche Anliegen eines solchen Miteinanders, nämlich Veränderung und Heilung einer seelischen Not zu erreichen? Führt man sich die Geschichte der Psychotherapie seit ihren Anfängen vor Augen, so scheint es einen nicht auflösbaren Gegensatz bzw. eine spannungsreiche Polarität zwischen sachlicher bzw. problembezogener Distanz und mitmenschlich-empathischer Nähe zum Gegenüber zu geben. Dem entsprechend wird in den Reflexionen zur angemessenen Haltung von Professionellen in diesem Geschäft einmal mehr diese Seite und ein andermal mehr jene Seite dieses Gegensatzes betont, indem z.B. das Beziehungsgeschehen mit der Brille der Übertragungsdynamik analysiert oder aber als ein gewöhnliches Geschehen zwischen prinzipiell gleichen Menschen betrachtet wird.

Allerdings scheint es in eher sachbezogenen Beratungssituationen wie Coaching und Supervision, in denen weniger intime Fragestellungen der beteiligten Gesprächspartner untersucht werden, eine weitaus geringere Notwendigkeit zu geben, sich alltäglich über diese Komplexität der zwischenmenschlichen Situation Rechenschaft zu geben. Dementsprechend gehört die Reflexion der jeweiligen Beziehung in diesem Bereich nicht zu den zentralen Themen, es sei denn vermittelt über die Supervision mit "Beziehungsarbeitern" (Pädagogen, Sozialarbeitern, Psychotherapeuten, Seelsorgern usw., vgl. Looss 1991), deren Erleben der Beziehungen zu ihren Klienten sich im supervisorischen Setting widerspiegeln und entsprechend bearbeitet werden kann. Dennoch gilt wegen der eingangs genannten Gründe generell für alle berufsbezogenen Beratungssettings, dass unabhängig von der inhaltlich-fachlichen Kompetenz das wechselseitige Wahrnehmen und Verstehen gelingen oder scheitern kann, dass also das Beziehungsgeschehen zwischen den beteiligten Dialogpartnern einen konstitutiven Anteil an erfolgreicher Beratungsarbeit hat. Dies wird heute auch jenseits der psychosozialen Arbeitsfelder, wie z.B. in der Unternehmensberatung, zunehmend thematisiert und insbesondere im Coaching von Führungskräften bearbeitet (soft facts, neben den ökonomischen hard facts). So meint z.B. Pichler im Hinblick auf die Unternehmensberatung: "Persönliche Beziehungen und echte Beteiligung an Problemlösungsprozessen werden künftig den Unterschied zwischen guter und schlechter Beratung ausmachen" (Pichler 2004, 9; vgl. Kets de Vries 2002; empirische Belege für die Bedeutung der Beziehung als Wirkfaktor im Coaching vgl. Jansen et al. 2004).

Nun ist aber "das Apriori der Beziehung" zwischen Menschen (Martin Buber 1923/1984, 31) so allgemein und so grundlegend, dass es sich nicht in handhabbaren Konzepten fassen lässt. "Beziehungsfähigkeit" oder generell "soziale Kompetenz" ist keine lehr- und lernbare Technik, sie lässt sich nicht trainieren und kann deshalb auch kein sinnvoller Bestandteil von Ausbildungscurricula sein. Denn "der 'Gegenstand' jeder Beziehungsarbeit ist eine lebendige Person, wenig vorhersehbar in ihrem Verhalten und ... unendlich komplex in ihren Reaktionen" (Looss 1991, 198). Vielmehr bleiben wir diesbezüglich auf unsere Erfahrungen angewiesen - aus dem persönlichen Alltag wie dem beruflichen Handeln. Erfahrungen führen aber nur dann zu einem Lernen und mithin zu einer Kompetenzerweiterung, wenn sie reflektiert und damit wirklich zu Eigen gemacht werden. Diese Selbstreflexion ist nicht abschließbar, und nur mit dieser Offenheit können wir so etwas wie "Weisheit" (vgl. Hanna et al. 2000) erlangen.

2. Unterschiedliche Grundhaltungen

Als Beitrag zu dieser Selbstreflexion möchte ich die Frage untersuchen, mit welcher Grundhaltung ein professioneller Coach oder Supervisor sich in eine Beratungssituation begibt und wie diese sich auf die Beratungsbeziehung auswirkt. Wie weit bin ich z.B. selbst "Fachmann" (bzw. "Super-Fachmann") für die jeweiligen Fragestellungen, oder bin ich eher ein Moderator, also ein Fachmann für das Gelingen von kommunikativen Prozessen? Und vor allem, welche Formen von Kontakt und Begegnung stehen mir zur Verfügung, um mit dem jeweiligen Gegenüber zu einer Verständigung zu gelangen? Mit welchen Behinderungen und Störungen muss ich in diesem Interaktionsgeschehen rechnen (z.B. außer Missverständnissen auch Verunsicherungen, Ängste, Ablehnung)? Und was sind dabei vielleicht spezifische Fallstricke, mit denen ich umgehen muss?

Was heute Coaching oder Supervision als Formen berufsbezogener Beratung darstellen, hat sicher viele Gesichter. Unterschiedliche Konzepte und Hintergrundstheorien ebenso wie variierende Kontexte, Bedürfnisse, Fragestellungen lassen das Tun und Lassen in Beratungsprozessen nicht auf einen Nenner bringen. Eine Beratung in Anspruch zu nehmen, kann unterschiedliche Motive haben, grob vereinfachend gesagt, einerseits ein Bedürfnis nach fachlicher Anleitung, andererseits nach einer dialogischen Begleitung durch einen kompetenten Gesprächspartner.

Die Herkunft der Supervision impliziert, dass ein Supervisor "von oben drauf schaut", wie der Begriff super-vision besagt. Das Konzept Supervision ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der amerikanischen Sozialarbeit entstanden, wonach ein Supervisor ein Vorgesetzter war, der das Tun von ehrenamtlichen Helfer/innen zu "beaufsichtigen", zu kontrollieren und zu korrigieren hatte. Auch die andere Quelle von Supervision, nämlich die Kontrollanalyse im Rahmen der Psychoanalytikerausbildung, meint eine fachliche Kontrolle "von oben": Der Kontrollanalytiker soll das berufliche Handeln der Kandidaten überprüfen und diese durch fachliche Korrektur "auf den richtigen Weg" bringen und damit die Standards der Psychoanalyse gewährleisten. Dahinter steht m.E. ein traditionelles hierarchisches Verständnis von "Wahrheit": Sie kommt von oben und wird verkörpert und vermittelt von hierarchisch höher stehenden Personen. In kirchlichen Hierarchien sind dies etwa der "Super-intendent" (im Protestantismus der Vorsteher eines Kirchenkreises) oder (die griechische Herkunft dieses lateinischen Begriffs) der "Epi-skopos", wovon sich das deutsche Wort "Bischof" ableitet. Beides bedeutet (ebenso wie Super-visor) wörtlich übersetzt der "Aufseher" bzw. der "Draufseher", mit dem Implikat, dass dieser als solcher eine höhere Wahrheitsbefugnis hat als seine jeweiligen Untergebenen.

Dieses hierarchische Denkmodell ist vermutlich auch in säkularen Arbeitsfeldern zumindest unterschwellig noch weithin wirksam, indem einem Vorgesetzten oder auch einem Coach oder Supervisor eine höhere Erkenntnis zugeschrieben (oder von diesen selbst in Anspruch genommen) wird als einem gewöhnlichen Professionellen, sei es auf Grund der Berufserfahrung oder der besonderen Ausbildung. Als Coach oder Supervisor muss man jedenfalls damit rechnen, dass einem solche Erwartungen entgegengebracht werden, und deshalb scheint mir eine Auseinandersetzung mit diesen Erwartungen und mit entsprechenden Rollendefinitionen notwendig. Sie können sich ausdrücken einerseits in überhöhten Rettungsphantasien, ein Coach oder Supervisor könne unlösbare Konflikte lösen, andererseits in der Angst, er würde vor allem die Schwächen und Fehler von Mitarbeitern aufdecken und ihnen ihre Inkompetenz nachweisen.

Dass solcherlei Erwartungen oder Befürchtungen ein spezifisches Beziehungsverständnis implizieren, liegt auf der Hand: Maßgebend sind Kategorien von oben vs. unten. Als Modelle sind etwa die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern oder zwischen Lehrern und Schülern relevant. Die Beziehungsgestaltung seitens des Beraters wird dann auf eine Haltung der Distanz und ein Ausüben von Macht aufgrund von Autorität hinauslaufen, seitens der Beratungsklienten einerseits auf Respekt und Reserviertheit, andererseits auf Angst, Unterwürfigkeit, Kleinheits- bzw. Minderwertigkeitsgefühle. Daraus können bekanntermaßen (und verständlicherweise) diverse Formen von Ablehnung, Verweigerung, Widerstand gegenüber der Beratung generell oder gegen einzelne Berater folgen, oder wiederum andererseits Bewunderung und Idealisierung bis hin zu kritikloser Hörigkeit.

Ich möchte in diesem Beitrag Coaching und Supervision als Beratungsformate darstellen, die nicht in erster Linie durch das "super" im Sinne eines "von oben" gekennzeichnet sind, sondern vielmehr durch ein "neben" oder "anders": Ein Berater, eine Beraterin repräsentiert keine Instanz über den Beratungsklienten, sondern steht neben ihnen, er bzw. sie hat eine andere Perspektive. Dazu gehörende Begriffe sind also weniger Kontrolle und fachliche Kritik als vielmehr Begleitung, Unterstützung, gemeinsames Fragen und Hinterfragen, Untersuchen und Perspektivenwechsel; kurz, Coaching und Supervision sollen nicht als Vermittlung von (höheren) Wahrheiten verstanden werden, sondern als Freiraum des Fragens, Experimentierens, Erforschens und Überprüfens von Handlungen, Erfahrungen, Konzepten, Wertorientierungen usw. Zweifellos sind dazu der Fundus einer möglichst breiten Berufserfahrung und eine jeweilige Feldkompetenz des Beraters erstrebenswert; aber die Grundorientierung ist nicht die Belehrung, sondern der Dialog.

Daraus ergibt sich eine ganz andere Beziehungsgestaltung: Der Berater bzw. die Beraterin ist nicht der Löser von Problemen oder Erlöser aus Konfliktsituationen, sondern eher ein kollegialer Begleiter. Grundmodell ist keine Beziehungssituation, die ein oben und unten impliziert, sondern prinzipiell eine partnerschaftliche, gleiche Ebene (unter Vorbehalt der unterschiedlichen Rollen). Die Beziehungsgestaltung ist seitens des Beraters durch Partizipation und durch Transparenz des eigenen Tuns geprägt, seitens des Rat Suchenden durch Selbstverantwortung und durch angstfreie Offenheit.

Daneben steht allerdings eine Paradoxie von Gleichheit und Ungleichheit: In fachlicher, inhaltlicher Hinsicht kann man von einer prinzipiell gleichen Ebene ausgehen, welche die Basis einer dialogischen Beziehung darstellt. Ungleich sind aber die Rollen der jeweiligen Dialogpartner: Ein Coach oder Supervisor hat bestimmte Aufgaben zu erfüllen, z.B. das Gespräch zu strukturieren, Fragen zu präzisieren, veränderte Perspektiven zu eröffnen, Deutungen anzubieten oder auch relevante Informationen zu präsentieren usw., und nicht zuletzt verdient er sein Honorar, das die anderen bezahlen. Dialogische Beziehung soll also nicht heißen, eine durch die Situation definierte Rollendifferenz zu negieren oder zu vertuschen, wohl aber das Bewusstsein einer prinzipiell möglichen Austauschbarkeit der Rollen. Es sei hierzu an die Kritik Martin Bubers an dem Protagonisten der Humanistischen Psychologie Carls Rogers erinnert, der z.B. von der therapeutischen Beziehung als einer "Begegnung von zwei Personen auf der gleichen Ebene" spricht, während Buber, Protagonist des "Dialogischen Prinzips", auf die durch die "reale Situation", die unterschiedlichen Bedürfnisse und die unterschiedlichen Rollen bedingte Ungleichheit hinweist (vgl. Friedman 1992, 250).

3. Der sokratische Dialog

Diese Paradoxie von Gleichheit und Ungleichheit möchte ich nun näher beleuchten, indem ich den Sokratischen Dialog als Modell heranziehe. Dieses Modell ist im Laufe der abendländischen Geschichte immer wieder aufgegriffen worden und stellt eine mächtige Ressource zur kritischen Selbstreflexion dar. So möchte ich das "sokratische Gespräch" auch für den Kontext von Coaching und Supervision fruchtbar machen.

Die Haltung des Sokrates lässt sich folgendermaßen umreißen: In der Auseinandersetzung mit den Sophisten hat er deren monologischer Haltung, mit der ein Wissender einem Nichtwissenden entgegentritt, die dialogische Haltung entgegengesetzt, in welcher die Gesprächspartner als gleichermaßen Nichtwissende bzw. als Fragende sich durch den Dialog um das Verstehen einer Sache bzw. um die Lösung eines Problems bemühen. Sokrates (470-399 v. Chr.) praktizierte sein Philosophieren, indem er auf den Plätzen Athens beliebige Gesprächspartner durch sein Fragen zum Überprüfen ihrer vermeintlich sicheren "Meinungen" aufforderte. Er vertrat also keine "Schule", hatte keine Institution im Rücken (und auch nicht "im Nacken"), er war also im wahrsten Sinne "freiberuflich" tätig. Wie bekannt, wurde er im Jahre 399 (etwa 70jährig) von den Athenern wegen "Unfrömmigkeit" und "Verderben der Jugend" zum Tode verurteilt. Dies mag darauf hindeuten, dass ein freies, nicht schulmäßiges Denken schon immer für viele Menschen anstößig war.

Zum Verständnis des Nicht-Wissens sei die Unterscheidung der verschiedenen Ebenen des Wissens herangezogen, wie sie in dem (von Platon verfassten) frühen Dialog "Charmides" entwickelt werden: (1) technisches bzw. instrumentelles Wissen (téchne) als die Fähigkeit, etwas herzustellen oder zu bewerkstelligen, "wie die Handwerker etwas herstellen"; (2) verstehendes Wissen (epistéme) als die Fähigkeit, etwa strukturelle Zusammenhänge zu erfassen, "wie die Heilkunde ein Wissen von Gesundheit ist"; (3) das Wissen des Wissens (epistéme epistémes bzw. syneídesis, wörtl. "Mit-wissen", lat. con-scientia) als die Fähigkeit der Selbstreflexion, was wir mit "Bewusstsein" oder "Gewissen" übersetzen können. Bei der in diesem Dialog untersuchten Frage, was "Besonnenheit" ist, wird gezeigt, dass diese sich keiner dieser drei Ebenen des Wissens zuordnen lässt, sodass die Gesprächsteilnehmer am Ende also nach wie vor nicht wissen, was Besonnenheit eigentlich ist. Als Ergebnis der Untersuchung wird vielmehr deutlich, dass das Wesen der Besonnenheit gerade darin besteht, sich über dieses Nicht-Wissen Rechenschaft abzulegen, also (4) in dem Wissen des Nicht-Wissens. Das höchste Wissen, das einem Menschen möglich ist, ist demnach das Bewusstsein dieses Nicht-Wissens. Das heißt, dass der Mensch die Anmaßung, etwas sicher zu wissen, durchschaut; und indem er sich von dieser Täuschung befreit, was als "Heilung der Seele" (psychès therapeía, Platon, Laches 185 E5) begriffen wird, gelangt er zum Einklang mit sich selbst. Genau dies ist die Grundlage jeglicher Tugend (d.h. eines Gutseins im Sinne der Fähigkeit, auf begegnende Situationen angemessen zu reagieren). "Tugend" ist also kein lehrbares Wissen, wie die Sophisten meinen, sondern eine Haltung, nämlich die "Übereinstimmung von Erkennen und Vollbringen, von Denken und Handeln, von Wissen und Leben" (Picht 1969, 91).

Mit dem Anerkennen des Nicht-Wissens passiert also in mehrfacher Hinsicht eine Veränderung:

(1) Das vermeintlich Gewusste wird zu einem Nicht-Gewussten, es wird "frag-würdig".

(2) Durch die gemeinsame Bemühung des Fragens verändert sich das Vorverständnis einer Lehrer-Schüler-Beziehung; die Beteiligten werden zu gleichberechtigten Dialogpartnern, indem alle als Nicht-Wissende vor der Sache stehen.

(3) Vor allem verändert sich die Art des Sprechens: Der Belehrung durch einen Wissenden, einen Sachverständigen entspricht der Monolog hier herrscht folgende Konstellation: Wissender und Gewusstes einerseits, passive Zuhörerschaft andererseits, graphisch vielleicht darzustellen in einer Linie von oben nach unten. Wenn an die Stelle eines zu vermittelnden Wissens das Anerkennen des Nicht-Wissens und ein gemeinsames Fragen treten, werden die Beteiligten zu Gesprächsteilnehmern - die angemessene Art des Sprechens ist der Dialog. Als graphische Darstellung bietet sich das Dreieck an: die Dialogpartner auf der gleichen Ebene mit einem gemeinsamen Bezug auf das jeweilige Problem. Der Dialog wird damit zu einem "Raum der Erfahrung des Bezugs zwischen dem Thema und denen, die über das Thema sprechen" (Strohmaier 1979, 102). Der Wechsel vom Monolog zum Dialog ist also mehr als nur eine Veränderung der Kommunikationsform, nämlich eine veränderte "Art der Verfügbarkeit der Sache, um die es geht" (ebd.): Im dialogischen Sprechen wird eine Aussage "als Beitrag aufgefasst, der seinen Sinn gerade darin hat, nichts Endgültiges, sondern nur Moment einer Bewegung zu sein" (S. 112); "Dialogisches Sprechen ist solches, das sich gegenüber seinem Gegenstand als Vorläufiges versteht" (S. 113). Dialogik unterstreicht den Prozess des Erkennens. Es geht darin also eher um eine Bewegung als um ein endgültiges Ziel. Anders gesagt, Ziel des Erkennens ist, sich zu öffnen und sich offen zu halten für das Andere, Fremde. (So gibt es in vielen, besonders den frühen von Platon verfassten sokratischen Dialogen typischerweise auch keine endgültige Antwort, kein abschließendes Ergebnis, sondern am Ende steht die Aufforderung an die jeweiligen Dialogpartner, selbst weiter zu untersuchen.)

(4) Wer aufgrund des Bewusstseins des eigenen Nicht-Wissens im obigen Sinne im Einklang mit sich selbst ist, ist erst im vollen Sinne begegnungsfähig; er ist bereit, Andere in ihrer Andersartigkeit und Autonomie wahrzunehmen und anzuerkennen, ohne einen missionarischen Eifer, ihnen die "Wahrheit" bzw. das richtige Verständnis von einer Sache beibringen zu müssen.

Um das Bisherige zusammenzufassen: Erkenntnis und Selbst-Erkenntnis sind dialogischer Natur. Erkennen vollzieht sich durch das Gespräch zwischen Menschen als gemeinsames Suchen in wechselseitigem Fragen und Hinterfragen, in Rede und Gegenrede, ebenso in wechselseitigen Resonanzen. Es ist die wechselseitige Herausforderung, aus sich selbst herauszutreten (griech. ékstasis, s.u.) in der Konfrontation bzw. "Begegnung" mit dem fremden Gegenüber bzw. mit dem Fremden im Gegenüber. Voraussetzung für gelingende Dialoge ist dabei in jedem Fall die Anerkennung des Gesprächspartners als ebenbürtig, d.h. als gleichermaßen vernunftbegabt, unabhängig vom jeweiligen intellektuellen Niveau.

4. Mäeutik

Sokrates, der als ein Weiser galt und deswegen zu theoretischen wie zu praktischen Problemen um Rat gefragt wurde, bezweckte mit seiner Dialogik nicht, seinen Gesprächspartnern mit schlüssigen Antworten zu begegnen oder sie von einer bestimmten These zu überzeugen, sondern er wollte sie zu einer "Überprüfung" ihrer eigenen Gedanken anregen, um damit den eigenen Erkenntnisprozess in Gang zu bringen. Er nannte dies "Mäeutik", wörtlich "Hebammenkunst" (téchne maieutiké; Platon, Theaitet 149 A - 151 C): Er verstand sich also als ein "Geburtshelfer", der "für die gebärenden Seelen Sorge trägt" (ebd.). Eine Geburt geschieht im Wesentlichen von sich aus, und der Helfer hat dabei allenfalls den Prozess zu begleiten und zu unterstützen oder ggf. Komplikationen bzw. ein Ermüden zu überwinden - oder auch eine "Scheinschwangerschaft" oder eine "Fehlgeburt" als solche zu diagnostizieren (150 D). Dies ist nichts Harmloses oder nur Sanftes, denn zuweilen muss ein Geburtshelfer kräftig eingreifen und konfrontieren (wie ich es bei der Geburt meiner Kinder als angemessen und hilfreich miterlebt habe). Jedenfalls ist mit Mäeutik keine rigide Abstinenzhaltung gemeint, mit der ein Berater oder Supervisor sich aus der Beziehungsdynamik heraushält, sich als Person unerkennbar macht und sich damit aus dem dialogischen Geschehen heraushebt. In ihren "Grundregeln des Sokratischen Gesprächs" betont Raupach-Strey (1997, 156) zu Recht: "Ein total abstinenter, als Person nicht erkennbarer Leiter oder eine Leiterin ist für eine Gruppe zumindest heutzutage unerträglich." Dennoch, die Kompetenz eines Beraters ist vor allem eine Prozesskompetenz und nicht nur eine Wissenskompetenz.

Mäeutik ist also die Grundhaltung, den Anderen in seinem eigenen Erkenntnisprozess zu unterstützen, da jeder Mensch die Möglichkeit des Erkennens in sich trägt - und da letztlich "niemand erkennt, was er nicht selbst entdeckt" (Picht 1990, 464). Nicht die richtige Dogmatik und eine entsprechende Indoktrination sind hilfreich, sondern der eigene Weg. Allerdings ist die mäeutische Funktion "nicht ohne Sachbezug möglich"; der Geburtshelfer "bemüht sich zwar um die Geburt der Gedanken des Anderen, aber seine Hilfestellung könnte durch bloß formales Herausfragen ohne empathisches Erahnen des Gedankeninhalts auch nicht gelingen" (Raupach-Strey 1997, 156).

Es sei angemerkt, dass man in verschiedenen gängigen philosophischen Lexika unter dem Stichwort "Mäeutik" ein offenbar traditionelles Missverständnis findet; so z.B. bei Hoffmeister (1955): "Verfahren, im Gespräch andere zu Erkenntnissen zu führen, sodass sie diese selbst aus sich heraus gewonnen zu haben meinen und Sokrates nur den Dienst der Entbindung, des Ans-Licht-Bringens geleistet zu haben scheint." Mäeutik wird dann auch als ein ironisches "Sich-Dumm-Stellen" charakterisiert (z.B. Schmidt 1969, 288). Es scheint manchen abendländischen Deutern des Sokrates schwer zu fallen, anzuerkennen, dass ein großer Geist nicht von oben nach unten denkt und sich Anderen gegenüber entsprechend verhält.

5. Das "Wissen des Nichtwissens"

Der berühmte Satz des Sokrates "Ich weiß, dass ich nichts weiß" erscheint zunächst als irritierend und wird deshalb ja auch gerne als ein ironisches Sich-Dumm-Stellen interpretiert. Die viel zitierte "Ironie des Sokrates" ist aber keine "Verstellung" (griech eironeía); sondern gerade "dann, wenn die Anderen meinen, dass er sich ironisch verstellt, ... sagt er die Wahrheit. ... Er sagt die Wahrheit, ... wenn er von seinem Nichtwissen spricht. Aber die Anderen können diese Wahrheit nicht verstehen und halten sie deshalb für Verstellung" (Picht 1990, 437 f.). Das "Wissen des Nichtwissens" meint also keine falsche Selbstverleugnung, sondern vielmehr eine Grundhaltung, mit dem eigenen Wissen umzugehen und dem jeweiligen Gegenüber zu begegnen. Diese Haltung möchte ich im Folgenden noch einmal im Hinblick auf die Beziehung in Beratungskontexten verdeutlichen.

Ein Berater ist nicht in erster Linie ein Wissender, sondern ein Mitdenkender und Fragender, der allerdings von der Fragwürdigkeit eines scheinbar sicheren Wissens weiß. Er hat nicht die Wahrheit bzw. die Lösung eines Problems, die er dem Anderen beizubringen hätte, sondern er kann in einem gemeinsamen Suchen hilfreiche Fragen stellen und mit eigenen Assoziationen Verstehensmöglichkeiten eröffnen, damit sich Antworten entwickeln lassen. Seine Rolle ist also nicht in erster Linie die eines Fachmanns, der Fragen beantwortet, sondern eher die eines Gesprächskünstlers, der einen Freiraum für dialogische Prozesse des Verstehens schaffen kann. Eine Meisterschaft wäre die Fähigkeit,

(1) dialogische Prozesse zu ermöglichen und zu unterstützen,
(2) vermeintliche Selbstverständlichkeiten und Sicherheiten zu hinterfragen,
(3) Zusammenhänge zu erfassen oder herzustellen,
(4) Geduld, Ausdauer und Vertrauen in den Erkenntnisprozess der Anderen aufzubringen,
(5) den/die Beratungsklienten bei offensichtlichen Missverständnissen oder Fehlhaltungen zu konfrontieren
(6) und dabei der Versuchung von dogmatisch oder durch Konvention fixierten Sicherheiten zu widerstehen.

Mit anderen Worten, Meisterschaft ist vor allem in der inneren Freiheit begründet, nicht haften zu bleiben an einmal gewonnenen Erkenntnissen und sich dem, was einem jeweils begegnet, öffnen und ihm situationsangemessen begegnen zu können.

Die mäeutische Haltung und das Wissen des Nichtwissens sind also nicht als ein absichtsvoll didaktisches Sich-Zurücknehmen gegenüber dem Anderen zu verstehen, mit der wohlmeinenden, aber widersprüchlichen Botschaft: "Ich will, dass du von dir aus darauf kommst", oder "Ich will dir das Gefühl geben, als sei es deine eigene Erkenntnis." Im Hinblick auf die dialogische Beziehung geht es vielmehr um das grundlegende Anerkennen: "Letztlich weiß ich nicht, wie deine Situation, deine Probleme zu verstehen sind und was eine angemessene Lösung sein kann; was ich weiß (Information über Fakten oder Konstrukte) und was ich zu erkennen meine und wie ich diese Wahrnehmung interpretiere, will ich dir gerne mitteilen, aber ob es für dich gültig ist, kann ich nicht wissen, und es bleibt deine Aufgabe, es zu überprüfen, es dir zu Eigen zu machen oder zu verwerfen."

Um das Verhältnis von Wissen und Nichtwissen näher zu bestimmen, möchte ich die oben genannten vier Ebenen des Wissens noch einmal aufgreifen und im Hinblick auf die beraterische Praxis explizieren:

(1) Technisches, instrumentelles Wissen: Diese Ebene umfasst alles, was man im Rahmen einer beruflichen Ausbildung an Konzepten, Methoden und Techniken (z.B. im Hinblick auf Diagnostik und Interventionsformen) lernen kann und muss. Das jeweilige soziologische, psychologische, pädagogische, juristische usw. Fach-Wissen bildet die notwendige materiale Basis für alle weiteren Ebenen.

(2) Verstehendes Wissen: Die zweite Ebene des Wissens verlangt von dem Praktiker, in einfühlendem Verstehen die Anwendung von gelernten Konzepten und Techniken der jeweiligen konkreten Situation anzupassen und nicht umgekehrt die vorfindliche Problemsituation den mitgebrachten Konzepten zu unterwerfen. Mit anderen Worten, hier tritt die erste Ebene hinter die zweite zurück. Einfühlungsvermögen lässt sich nicht in Lehrgängen aneignen oder aus Büchern lernen, sondern ist das Ergebnis von Lebenserfahrung mit sich und seiner Umwelt; es entsteht also nicht aus einem schulmäßigen Lernprozess, sondern aus einem persönlichen Reifungsprozess (der allerdings in Ausbildungsgängen angeregt werden kann).

(3) Das Wissen des Wissens: Die dritte Ebene meint die Bewusstseinsentwicklung als Selbstreflexivität, d.h. die Fähigkeit, sich von seinen unmittelbaren Wahrnehmungen und Bewertungen zu distanzieren und sie zu hinterfragen, um auf diese Weise zu ungewohnten, neuen Wahrnehmungen, Bewertungen und Handlungsmöglichkeiten zu gelangen.

(4) Das Wissen des Nichtwissens: Als höchste Stufe des Wissens lässt sich das Bewusstseins um die Begrenztheit seines Wissens betrachten. Die paradoxe Formulierung "Wissen des Nichtwissens" kann also nicht Ahnungslosigkeit bedeuten und auch keine Negation oder Entwertung des konzeptionellen und des technischen Wissens, welches vielmehr die notwendige Basis des professionellen Handelns darstellt.

Man kann vielleicht fragen, ob nicht manche Deformationen im Bereich von beratenden Berufen auf eine Verwechslung von technischem bzw. instrumentellem Wissen (als der Fähigkeit, etwas zu machen bzw. zu bewerkstelligen) und verstehendem Wissen (als der Bereitschaft, sich für etwas zu öffnen und Verstehensprozesse zu fördern) zurückzuführen sind. Es mag ja eine Verführung sein, mit einer Interventions-Technik etwas im Griff zu haben und es damit erledigen zu können. Und die Grenzen der Machbarkeit anzuerkennen, also die Tatsache, dass nicht alles machbar ist, was einem erstrebenswert scheint, ist offenbar häufig eine konflikthafte Herausforderung.

Andererseits bedeutet das Reden vom "Nicht-Wissen" keine Unkenntnis, weder im Hinblick auf die Situation des Dialogpartners noch im Hinblick auf Interventions-Techniken; und auch die Forderung einer hinreichenden "Feldkompetenz" des Beraters bleibt von diesen Überlegungen unberührt. Außerdem gehört es auch zur Kompetenz eines Beraters, einen Beratungsklienten in einer krisenhaften Entwicklung zu stützen oder in eskalierenden Konflikten in das Geschehen einzugreifen, eine verfahrene Situation zu strukturieren und Auswege aufzuzeigen; nur verständnisvoll daneben zu stehen, reicht hier nicht aus. Das "Wissen des Nicht-Wissens" meint vielmehr das Bewusstsein, dass alle noch so kompetenten Bemühungen einen anderen Menschen oder eine Team- bzw. Arbeitssituation letztlich nicht vollständig zu erfassen vermögen. Zwar ist das Bedürfnis nach Gewissheit, nach sicheren und eindeutigen Orientierungen wohl tief verankert; aber zu meinen, man hätte in seinen Konzepten, Wahrnehmungen und Bewertungen eine unumstößliche Sicherheit, bleibt illusorisch und ist sicher nicht dialogisch.

Für die Beratungssituation lassen sich verschiedene Dimensionen des Nicht-Wissens aufzeigen:

(1) Als Irrtumsvorbehalt. So kann man sich z.B. fragen: "Ich habe mit meinen diagnostischen Möglichkeiten und aufgrund meines Wissens Perspektiven entwickelt, wie sich das Problem des Dialogpartners (bzw. eines Teams oder eines Projekts usw.) verstehen und bewältigen lässt. Aber ob meine Perspektiven des Verstehens und Handelns angemessen sind, bleibt beständig zu überprüfen, und ggf. muss ich meine Arbeitshypothesen revidieren."

(2) Als Ganzheitsvorbehalt. Dann ist die Frage wichtig: "Was weiß ich eigentlich von einer Person (bzw. einem Team usw.) insgesamt, wenn ich weiß, dass sie dieses oder jenes Problem hat, das man so und so einordnen kann?" Und weiterhin ist zu berücksichtigen, dass man nicht wissen kann, welche kurz- und langfristigen Wirkungen eine Intervention auf das Ganze einer Person (bzw. einer Organisation oder eines Projekts) tatsächlich haben wird.

(3) Als Kulturvorbehalt. Angesichts der rasanten Veränderungen unserer Lebenskultur, der instabiler werdenden Familienstrukturen, der zunehmenden globalen Vernetzungen von Kommunikation und Wirtschaft ist noch grundlegender zu fragen, ob und wieweit unsere Konzepte noch angemessen sind: Unsere Vorstellungen von Subjektivität, von Beziehung, von Arbeit, auch von Gesundheit oder Normalität wandeln sich, und in der Arbeitswelt werden sich neuartige Konfliktkonstellationen zeigen, die neue Konzepte verlangen. Diese Frage stellt sich heute insbesondere in interkulturellen Zusammenhängen, wo wir mit ganz anderen, für Europäer zunächst fremden Denkmustern, Sozialstrukturen und Verarbeitungsformen konfrontiert sind. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass sich in jeder Einrichtung, in jedem Unternehmen oder jedem Team eine eigene Kultur mit jeweils unterschiedlichen Umgangsformen, Kommunikationsstilen, Beziehungsmodalitäten usw. vorfinden lässt, dann kann man sinnvollerweise sagen, dass ein Berater immer in eine fremde Kultur eintritt, die es zunächst einmal anzuerkennen und zu verstehen gilt (vgl. Heimannsberg, Schmidt-Lellek 2000).

Blockierungen oder Widerstände eines Dialogpartners gegen die Bemühungen eines Beraters können damit eine veränderte Bedeutung erhalten: Aufgrund eines als sicher erscheinenden oder dogmatisierten Wissens entstehen leicht Machtphantasien, Machtansprüche und Formen der Machtausübung, die den Anderen entmündigen, ihn zu einem Objekt der eigenen Beurteilung machen, ohne ihn in seinem Eigen-Sein wahrzunehmen und anzuerkennen. Als "Wissender" mag jemand das Recht in Anspruch nehmen, Andere zu abhängigen "Klienten" zu machen und sich damit aus der dialogischen Situation, gekennzeichnet durch die Gleichberechtigung bzw. die prinzipielle Gleichheit der Beteiligten, herauszuheben. Der Widerstand des Dialogpartners kann demgegenüber die Qualität eines sinnvollen Selbstschutzes erhalten; und er kann auch dazu dienen, den Berater in die dialogische Situation zurückzurufen und ihn an die Autonomie seines Gegenübers zu erinnern.

Dialogik bedeutet, dem fremden Anderen und dem Fremden im Anderen in respektvoller, wertschätzender Weise zu begegnen. Dies setzt einerseits voraus, sich selbst wertschätzen zu können, und andererseits die Bereitschaft, vom hohen Ross eines vermeintlich sicheren Wissens herabzusteigen und sich damit zu öffnen für das jeweilige Gegenüber. In einer dialogischen Beziehung bleibt der Andere dem eigenen (erkennenden und handelnden) Zugriff letztlich unverfügbar. Eben hierin liegt die Freiheit für wirkliche Begegnung, nämlich in der Überwindung der Gefangenheit eines ichbezogenen Strebens, etwas haben oder kontrollieren zu wollen.

Um die dialogische Haltung des Nicht-Wissens mit einer prägnanten Formulierung zusammenzufassen: Das "Staunen" ist nicht nur der "Anfang der Philosophie" (Platon, Theaitet 155 D), sondern auch jeder wirklichen Begegnung.


6. Bedürfnisse und Interessen der Beraterpersönlichkeit - der "Eros" des Sokrates

Um den Umgang mit eigenen Strebungen bzw. ein Gefangensein darin näher zu beleuchten, möchte ich nun einen weiteren wesentlichen Aspekt der sokratischen Dialogik verdeutlichen und den Eros-Begriff heranziehen, wie er in Platons "Symposion" entwickelt wird. Dass der Eros für Sokrates eine große Bedeutung hatte und dass man sich Sokrates als einen leidenschaftlichen Menschen und keineswegs als einen abgeklärten, über den Dingen stehenden Asketen vorzustellen hat, wird nicht nur im "Symposion", sondern auch in anderen Texten angedeutet, wie z.B. in der Rahmenerzählung des erwähnten Dialogs "Charmides".

Das "Symposion" ist die Darstellung eines festlichen Gastmahls mit einer Abfolge von aufeinander aufbauenden Preisreden auf den Eros. Gegen Ende wird der Eros folgendermaßen beschrieben: Eros ist ein Begehren nach dem, was man nicht hat und dessen man bedarf, nämlich nach dem Guten und Schönen (202 D1), kurz, nach Glück. Eros ist also der Ausdruck eines grundlegenden Mangels, der im menschlichen Leben nie endgültig überwunden werden kann. Denn "der Mensch hat sein Selbstsein nicht in sich selbst, er hat sein Selbstsein immer außer sich und ist deshalb immer vom Eros bewegt" (Picht 1990, 544). So ist der Mensch genötigt, aus sich herauszutreten (ékstasis) und die Ergänzung durch Andere anzustreben.

Die Relevanz dieser Definition für unseren Kontext wird insbesondere deutlich, wenn man sie mit dem christlichen Liebesbegriff Agape kontrastiert: Ist Eros die "begehrende Liebe" aufgrund der Wahrnehmung eines Mangels, so ist Agape die "schenkende Liebe", die selbstlos nur auf den Anderen gerichtet ist und nichts für sich begehrt (am prägnantesten formuliert von Paulus in 1.Kor.13). Agape ist die Liebe eines Menschen, der sich selbst - im Glauben - als beschenkt weiß und diesen Reichtum weiterschenken will. Da dieser Begriff die Entwicklung der verschiedenen sozialen Helferberufe in unserer Kultur maßgeblich geprägt hat, lohnt sich eine Auseinandersetzung damit. Dabei ist etwa zu fragen: Wie kann ein Mensch zu einem solchen Reichtum gelangen, in welchem er nichts mehr begehrt - etwa durch einen Wunder-Sprung des Glaubens oder vielmehr durch einen mühsamen Entwicklungsprozess? Und vor allem, was passiert, wenn dies zu einer geforderten Haltung wird, in der man nichts begehren darf und in der sozusagen das Ergebnis eines "Wunder-Sprungs" oder eines Entwicklungsprozesses vorausgesetzt wird? Das Ideal eines guten Helfers bzw. Beraters wäre demnach ein Mensch, der in seiner Tätigkeit "selbstlos" keinerlei Eigeninteressen verfolgt und damit ganz für den Anderen bzw. für die Sache da ist. Dies ist aber in der Regel eine Selbsttäuschung, schon deshalb, weil der Helfer ja sein Geld verdient; aber auch ehrenamtliche Arbeit geschieht gewöhnlich aus einem Selbstinteresse heraus, z.B. als Sinnsuche, Kommunikationsbedürfnis, Streben nach Spaß usw.

Demgegenüber ist das Begehren des Beraters als Bestandteil der dialogischen Beziehung zu begreifen. Er ist als Mensch selbst ein "Begehrender"; er ist wie jeder Andere "ergänzungsbedürftig", da er nicht "vollständig", nicht vollkommen ist. Insofern gebe ich dem Eros-Begriff den Vorzug gegenüber dem christlichen Agape-Begriff, da er realistischer und m.E. integrativer ist; denn ein Verleugnen des Begehrens vergrößert die Wahrscheinlichkeit, dass es unterschwellig und unbeherrscht hervorbricht und entsprechenden Schaden anrichtet.

In diesem Zusammenhang mag auch das gängig gewordene Reden von den "hilflosen Helfern" (nach Schmidbauer 1977) zu der Vorstellung verleiten, das Ideal sei ein bedürfnisloser ("über den Dingen stehender", "durchanalysierter") Helfer. Zwar ist es natürlich notwendig, dass das Helfen nicht zur Befriedigung eigener (narzisstischer) Bedürftigkeit funktionalisiert wird; aber wir sind alle in gewisser Hinsicht "hilflose Helfer", insofern wir bedürftig und nicht perfekt sind; aber wir sind dann gute Helfer, wenn wir uns dessen bewusst sind, d.h. nicht der Täuschung erliegen und nicht bei Anderen die Täuschung produzieren, wir seien perfekt und hätten alle Probleme durchschaut und gelöst (a.a.O., 10 ff.).

Der Eros des Helfers kann dabei in zweifacher Hinsicht ein sinnvoller, ja notwendiger Bestandteil der beraterischen Beziehung sein: als Motiv der Zuwendung zum Anderen und als Motiv des Erkenntnisbemühens, in welchem auch das eigene Streben nach "Vervollständigung" seinen legitimen Ort hat. Aber diese soll nur ein Nebeneffekt sein; die beraterische Beziehung darf nicht für eigene Zwecke instrumentalisiert und dazu benutzt werden, eine Befriedigung eigener Bedürfnisse auf Kosten des Anderen zu erlangen, und sei es, dass ein Berater beim Anderen Erfolge seines Bemühens erzwingen will. Auf der anderen Seite steht das in Platons "Symposion" dargestellte Missverständnis des Alkibiades, der sich mit seiner körperlichen Schönheit dem Sokrates zu Liebesdiensten angeboten hat, um dafür an seiner Weisheit teilhaben zu können; er handelte damit zwar in der Überzeugung, das Gute zu erstreben, wollte es sich aber quasi einkaufen und wurde von Sokrates natürlich scharf zurückgewiesen. Der gemeinsame Nenner für beide Formen von Missverständnis bzw. Missbrauch ist eine Instrumentalisierung des Anderen. Damit verhindert die betreffende Person aber auch die Entwicklung ihrer selbst, indem sie der Eros-Spannung ausweicht, nämlich nicht anerkennt, dass der Andere dem eigenen Begehren nicht verfügbar ist und dass es außerdem keine umfassende Befriedigung gibt. "Aus dieser Erkenntnis, (...) dass wir das Schöne und Wahre nie besitzen können, entspringt dann jenes Streben, das uns aus uns selbst heraus und über uns hinwegführt, also der Eros" (Picht 1990, 464).

Bei Buber finden wir ganz entsprechende Gedankengänge: Er unterscheidet zwischen dem "dialogischen, flügelstarken Eros" (mit der Grundbewegung der "Hinwendung"), mit welchem der Andere "in seiner Anderheit, in seiner Selbständigkeit und Selbwirklichkeit" gemeint wird, und dem "monologischen, flügellahmen Eros" (mit der Grundbewegung "Rückbiegung"), mit welchem "ein Verliebter ... nur in seine Leidenschaft verliebt" ist und den Anderen nur als Spiegel dafür benutzt (Buber 1929/1984, 171, 181 f.).

7. Schlussfolgerungen

"Dialogische Beziehung" im Kontext von berufsbezogener Beratung enthält mehrere Paradoxien oder Polaritäten:

- die Gleichheit als Mensch und die Ungleichheit aufgrund der Rollendifferenz, die durch den professionellen Kontext bedingt ist;

- das lehr- und lernbare Wissen (z.B. Theorien und Konzepten zu Konfliktverläufen oder zu Organisationsdynamiken, Arbeitsprozessen und Interventionstechniken usw.) und andererseits das Nicht-Wissen im Hinblick auf das jeweilige Gegenüber (eine Person, ein Team, eine Organisation) und auf das jeweils zu lösende Problem;

- das Selbstinteresse einer Beraterpersönlichkeit und die Offenheit für die Situation des Anderen; in anderen Worten, der "Eros" als Wahrnehmung der eigenen Bedürftigkeit und die offene Zuwendung zum Anderen, bei der dessen Unverfügbarkeit gewahrt bleibt.

Eine dialogische Haltung bedeutet, die Spannung dieser Polaritäten wahrzunehmen und auszuhalten. Es bedeutet, den Mut aufzubringen, sich immer wieder in unbekanntes Terrain zu begeben und seine erworbenen Gewissheiten in Frage zu stellen bzw. in Frage stellen zu lassen. Es ist aber auch das Vertrauen in die eigene kognitive wie emotionale Intuition sowie in die des Dialogpartners. Weder Selbstverleugnung noch missionarische Indoktrination erlauben eine wahrhaftige Begegnung zwischen Menschen und ein Verstehen von fremden Problemen und Konflikten. Dialogisches Handeln ist ein Weg, der Entstehung von Abhängigkeit, Unterwürfigkeit oder Hörigkeit vorzubeugen.

So ist eine dialogische Haltung zunächst eine Form der Auseinandersetzung mit Zuschreibungen und Beanspruchungen von Macht und Autorität. Es geht dabei nicht um eine Negation der Macht, sondern um einen verantwortungsvollen Umgang mit Macht aufgrund von Selbst-Reflexion, um die Relativierung und Anerkennung der Begrenzung von Macht (und von Machbarkeit) sowie um die Anerkennung der Macht des jeweils Anderen. Dialogik kann damit der ubiquitären Gefahr eines Machtmissbrauchs begegnen, der etwa aufgrund von narzisstischen Bedürftigkeiten entsteht (vgl. Schmidt-Lellek 2006, Kap. 15). Daraus können wiederum Fehlwahrnehmungen folgen, sei es dass eine Problemkonstellation nicht hinreichend verstanden wird, sei es dass eigene Wahrnehmungen nicht ernst genommen werden oder eigene Kompetenzen und Verantwortlichkeiten nicht zum Zuge kommen. Kurz, in einer dialogischen Beziehung wird nicht Autoritätshörigkeit gefördert, sondern der notwendige eigene Erkenntnisweg unterstützt. Berufsbezogene Beratung in Coaching und Supervision soll sich daran messen lassen.


Literatur


Buber, M. (1984): Das dialogische Prinzip. Heidelberg: Lambert Schneider. (Darin: Ich und Du, 1923; Zwiesprache, 1929; Die Frage an den Einzelnen, 1936; Elemente des Zwischenmenschlichen, 1953).

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Schmidbauer, W. (1977): Die hilflosen Helfer. Über die seelische Problematik der helfenden Berufe. Reinbek: Rowohlt.

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